„Amos Oz: Judas“

Vortrag von Dr. Edgar Herrenbrück

in der Synagoge der Jüdischen Gemeinde Hameln
am 17. März 2016

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Liebe Mitglieder der Christlich-Jüdischen Gesellschaft,
liebe Mitglieder der Bibliotheksgesellschaft,
meine Damen und Herren,

ich freue mich, dass Sie heute Abend zu diesem Vortrag gekommen sind. Es geht um den Roman „Judas“ von Amos Oz, erschienen im letzten Jahr. Ein durchaus ungewöhnlicher Ro­man! Ich werde zunächst Inhalt und Gehalt vorstellen. Und werde dann an diesen Hauptteil zwei Ergänzungen anschließen:
    -  zunächst einen kurzen Abriss zur Geschichte der Judas-Figur
    -  und zum Schluss etwas zur Biografie von Amos Oz.

1. Der Name Judas
Ich beginne mit einer kürzlichen Äußerung von Oz in einem Interview zum Namen „Judas“:
Der Name Yehuda – so heißt Judas auf hebräisch – hat in meinem Leben schon im­mer eine Rolle gespielt. Mein Vater hieß Yehuda Aryeh. Mein Sohn, Daniel Yehuda Aryeh, ist nach ihm benannt. Yehuda ist ein häufiger, alltägli­cher Name, er ist positiv konnotiert. Aber wenn du jemanden in anderen Sprachen Judas nennst, kannst du ihm auch ins Gesicht spucken. Im christli­chen Sprachgebrauch ist Judas der Inbe­griff für Verrat und Demütigung und der Aus­bund von Judentum. Mich beschäftigte das … schon lange, noch be­vor ich wusste, dass ich ein Buch darüber schreiben wür­de.

Merken Sie, wie viel emotionale und moralische Wucht in diesen Sätzen steckt? Nun hat Amos Oz also dieses Buch geschrieben. Und wir erfahren vieles und Uner­wartetes über Ju­das. Dazu gehört natürlich auch die Frage nach dem historischen Jesus und damit nach dem Verhältnis von Juden und Christen. Aber der Roman bleibt da nicht stehen, er hat einen zweiten großen Schwerpunkt: Die Gründung des Staates Israel 1947/48 und die Rolle Ben Gurions dabei.

Diese Schwerpunkte liegen zeitlich und inhaltlich weit auseinander und sind doch miteinan­der ver­bunden. Die Verbindung heißt „Ver­rat“. Im Falle Judas ist das klar. Was haben aber der Unabhän­gigkeitskrieg und  Ben Gurion mit „Verrat“ zu tun? Dazu gleich mehr.

Diese beiden Schwerpunkte sind eingebet­tet in eine Handlung, die es in sich hat. Sie ist ein pralles Stück Wirklichkeit mit Leben, Liebe und Hoffnung. Und sie ereig­net sich in Jerusa­lem, im Winter 1959/60.
                                               
2. Jerusalem, Winter 1959/60
Hauptfigur dieses Romans ist Schmuel Asch, ein 25jähriger Student, der zu­nächst durch sei­ne Haare auf­fällt: dicker Wuschelkopf und „Höhlenmenschenbart“ bis auf die Brust. Haare auf den Zähnen hat er eher nicht: Er ist ein Gefühlsmensch, ist kommunikativ und sensibel, kann im selben Moment ja und nein sagen, ist Asth­matiker, der im­mer mal wieder Züge aus seinem Inhalator neh­men muss. Er kann wissenschaftliche Zusammen­hänge überzeugend
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darlegen, kann oft Tränen nicht unterdrücken und gerade deshalb dem Leben doch immer wieder gute Seiten abge­winnen.

Das alles hat er zu Beginn des Romans auch bitter nötig; denn da hat es ihn hart erwischt: Sein Verhältnis zu seinen Eltern in Haifa war schon immer schwierig; jetzt sind sie in wirt­schaftliche Not geraten und können sein Studium nicht mehr bezahlen. Sei­ne Lebenspartne­rin hat ihn von heute auf mor­gen verlassen. Und sein sechsköpfiger „sozialistischer Arbeits­kreis“ mit der Verehrung für Fidel Castro und die kubanische Revolution, der bröckelt. An­fang Dezember er­klärt er deshalb seinem Professor, dass er in seinem Studium keinen Sinn mehr sieht und es abbre­chen will - auch seine Examensarbeit „Jesus in den Augen der Ju­den“.

Schmuel Asch ist entschlossen, sein bisheriges Leben fundamental zu ändern. Er hat von ei­ner geplanten Stadt in der Wüste Negev gehört: Ramon. Dort möchte er gerne als Nacht­wächter oder Biblio­thekar arbeiten. Da entdeckt er eine Anzeige am Schwarzen Brett der Uni. Jemand sucht einen „sen­siblen Gesprächspartner mit his­torischem Wissen“ für einen behinderten, älteren Mann. Freies Woh­nen und eine bescheidene Unterstützung werden zu­gesichert.  Schmuel ist das als kleine Zwischenstation willkommen. Er bewirbt sich und hat Er­folg. Sie merken: Jetzt beginnt ein neues Leben, oder auch: jetzt beginnt eigentlich erst der Roman.

Das Haus, in dem Schmuel den Winter 1959/60 verbringen wird, liegt am Stadtrand von Je­rusalem. Es kommt ihm wie ein halber Keller vor, unterhalb des Straßennive­aus.  Hier woh­nen Atalja Abrabanel, die Hauseigentümerin, und ihr Schwiegervater Gerschom Wald.

Atalja Abrabanel ist 45 Jahre alt, eine ebenso attraktive wie sachlich-kühle Frau, be­ruflich in einer Detektei tätig. Sie hat 1946 Micha Wald geheiratet und ist mit ihm in das Haus ihres Vaters Scheal­tiel Abrabanel  gezogen. Der holt bald nach der Hoch­zeit seiner Tochter auch ihren Schwiegervater, Gerschom Wald, ins Haus, sichert ihm später lebenslanges Wohnrecht zu. Abrabanel war ein bekannter Rechtsanwalt, war auch Mitglied der Jewish Agency, ver­strickte sich dann da aber in Konflikte mit Ben Gurion und zog sich aus der Politik zurück. Dann traf 1948 ein großes Un­glück die Familie: Micha Wald, der Ehemann Ataljas, fiel im is­raelischen Unabhän­gigkeitskrieg. Für die drei Angehö­rigen ein sehr großer Schmerz. Als Va­ter Abrabanel 1950 überraschend starb, blieb Tochter Atal­ja al­lein mit ihrem Schwieger­vater Gerschom Wald im Haus zurück.

Der ist jetzt, 1959, ein Mann von 70 Jahren, spitzknochig und bucklig, kann sich nur noch mit Krücken bewe­gen, wirkt trotzdem königlich mit seiner weißen, schulterlan­gen Haar­pracht. Er ist sehr rede- und reflexionsfreudig, ist klug und weise, telefoniert täglich mit ver­schiedenen Gesprächspartnern.

Atalja hat Probleme, hat Hemmungen im Umgang mit ihrem Schwiegervater Ger­schom Wald. Also holt sie immer wieder einen jungen Mann, der gegen Bezahlung sich um Ger­schom Wald kümmern muss. Jetzt ist das also Schmuel Asch.  Atalja zeigt ihm die kleine Mansarde, in der er wohnen wird, und erläu­tert ihm seine sehr überschaubare Aufgabe: Er muss von nachmittags fünf Uhr bis abends elf Ger­schom Wald betreuen, d.h. seinen Telefon­gesprächen zuhören, selbst Gespräche mit ihm füh­ren und abends um sieben ihm seinen Brei geben. Er  muss sich zudem schriftlich verpflichten, keine Gäste mitzubringen und mit nie­mandem über seine Tätigkeit zu sprechen. Es gibt da offenbar Geheimniss­e. Darüber wird zu reden sein.
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Sehr bald beherrscht Schmuel seinen Tagesplan und beginnt, sich in der neuen Umgebung wohlzu­fühlen. Er hat viel freie Zeit. Bekommt Lust, das Thema „Jesus in den Augen der Ju­den“ wieder aufzugrei­fen, studiert in der Nationalbibliothek dazu weitere Quellen. Er liest Gerschom Wald aus den schon ferti­gen Teilen vor, hat in ihm immer einen kompetenten Ge­sprächspartner. Die Sympathie zwischen ihnen wächst.

Schmuel macht aber auch nächtliche Spaziergänge. Begleiten wir ihn doch einmal (S.212ff.):

„Er trat aus dem Haus in die Dunkelheit, schloss die Tür hinter sich ab und klopfte mit dem Spazierstock auf das Steinpflaster. Der Regen hatte nicht gänzlich aufgehört, aber er hatte nachgelassen, es nieselte nur noch leicht. Auch der Wind hatte sich gelegt. Tiefe Stille lag über der Gasse. […]  Bei allen Fenstern waren die Läden geschlossen, aus keinem einzigen drang Licht. Die alte Straßenlaterne aus der britischen Mandatszeit, deren Scheibe aus un­zähligen Glasteilchen zusammengesetzt war, produzierte nur wenig Licht, aber viele Schat­ten, die nervös über die Straße und die Wände huschten. […]

In der Dunkelheit war plötzlich in der Ferne ein dumpfer Schuss zu hören, und danach wur­de die Stille von einer Salve scharfer Schüsse zerrissen, die von sehr viel näher zu kommen schienen, aber Schmuel wusste nicht, aus welcher Richtung. Von drei Seiten umgab das jor­danische Jerusalem das israelische, und überall entlang der Grenzen hatte man befestigte Wachtposten errichtet, überall war Stacheldraht gespannt, es gab Betonmauern und vermin­te Felder. Von Zeit zu Zeit trafen jordanische Schützen einen Passanten, oder es kam zu ei­ner sinnlosen Schießerei von einer halben oder einer Stunde zwischen den Wachtposten auf beiden Seiten der Grenze. Nachdem die Schüsse aufgehört hatten, senkte sich wieder die Stil­le der Winternacht über Jerusalem. […]

Schmuel ging weiter, über den Marktplatz Machane Jehuda, durch das Viertel Makor Ba­ruch, an dessen Hauswänden Plakate von Rabbinern und Synagogenvorstehern angebracht waren. Beschwörungen und Beschimpfungen, „Ein großes Unglück ist uns geschehen“, „Tastet meine Gesalbten nicht an“, „Es ist verboten, an den sündigen Wahlen teilzunehmen“, „Die Zionisten setzen die Taten Hitlers fort, vergessen sei sein Name“. Seine Füße trugen ihn zu der Gasse in Jagia Kapajim, in der sich das kleine Café aus der Zeit sei­nes Arbeits­kreises zur sozialistischen Erneuerung befand, dieses proletarische Café, in dem er mit fünf Genossen an zwei zusammengeschobenen Tischen gesessen hatte […].

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten nach eins. Hier im Viertel war kei­ne Menschenseele zu sehen. Nur aus einem der Fenster drang schwaches Licht, und er stell­te sich vor, dass dort im Zimmer ein junger frommer Mann saß und die Psalmen las. In Ge­danken sagte er zu dem jungen Mann: Wir beide, du und ich, suchen etwas Unfassbares, deswegen finden wir es auch nicht, selbst wenn wir bis zum Morgen suchen, auch in der fol­genden Nacht und jede Nacht bis zum Tag unseres Todes, und vielleicht finden wir es sogar nicht danach.“

Mit Gerschom Wald spricht Schmuel auch über persönliche Dinge: Der antwortet dann klug und wit­zig, z.B. so: „Sie wollten sich hier vor dem Leben verstecken und nun haben Sie sich ver­liebt! - Haben Sie abgesehen von Ihrer Schwester und von Lenin und Jesus kei­nen ande­ren auf der Welt, der Ihnen nahesteht? Egal, Sie brauchen diese Frage nicht zu beantworten. Sie sind ein tapferer Kämpfer in der Armee der Weltverbesse­rer, und in bin nichts als ein Teil der verdorbenen Welt.“ Das ist geistreich und zu­gleich liebevoll und
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zugeneigt. Und ist ty­pisch für ihren Umgangston.

Wald hat richtig gesehen: Schmuel ist in Atalja verliebt. Und sie merkt es. Schmuel sei, sagt sie leicht spöttisch, doch ins Haus ge­kommen, um allein zu sein. Jetzt nach drei Wochen scheine die Einsamkeit ihn schon zu belasten. Schmuel nutzt die Situation und erzählt Atalja von den Gründen seines Hierseins. Atalja reagiert ru­hig, kühl und spricht vom Kaffeetrin­ken. 

Sie spürt Schmuels Gefühle, bleibt auf Distanz und ist doch nicht ohne Sympa­thie für ihn.
Jeden­falls fordert sie ihn eines Tages auf, seinen freien Abend mit ihr zu ver­bringen. Schmu­el kann sein Glück kaum fassen.  Sie gehen zuerst ins Kino, spä­ter ins Restaurant. Als er im Kino sei­nen Arm um ihre Schultern legt, lässt sie es ge­schehen, erwidert diese Geste aber nicht. Er fühlt: Die Frau neben ihm beherrscht ihn. Und ist für ihn unerreich­bar. Doch Atalja hat etwas für Schmuel üb­rig: Am Ende sagt sie: „Ich finde es eigent­lich sehr angenehm mit Ihnen, weil Sie kein Jäger sind. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“ 

Eines Tages kommt sie sogar in Schmuels Mansarde und fragt ihn, was er denn da lese. Und Schmuel erzählt ihr von seinen Studien zu Jesus und Judas. Sie machen auch wieder Spa­ziergänge durch das nächtliche Jerusalem, einmal sogar bis zum Berg Zion, zum Grab Da­vids. Und immer noch Schmuels  Werben. Und immer wieder Ataljas Antwort: „Noch nicht. Vielleicht im Laufe der Zeit. Vielleicht nie.“

Dann, es ist schon Februar, stürzt Schmuel im Haus an einer defekten Treppenstufe und ver­letzt sich schwer an Kopf und Knöchel, muss mit Krücken gehen. Atalja öff­net ihm das bis­her streng ver­schlossene Zimmer ihres Vaters, um ihm das Treppen­steigen zu ersparen – ein großer Vertrauensbe­weis. Sie pflegt ihn behutsam und verständnisvoll. Nun kommt es auch zum Sex zwischen ihnen. Sie erzählt Schmuel, den sie inzwischen duzt, sogar von ihrer Kindheit, vom Weggang ihrer Mutter, von der Lieblosigkeit ihres Vaters. Aber die Distanz und der freundlich kühle Grundton bleiben.

Anfang März hört der Winterregen auf. Vogelgezwitscher in den Baumwipfeln. Atalja drängt Schmuel zum Aufbruch: „Der Winter ist vorbei. Für den Bär wird es Zeit auf­zuwachen.“ Sie packt für Schmuel die Sachen zusammen – in seinen Seesack, schiebt sogar ein Geschenk zwischen die Klei­dung. Dazu ein längeres Abschiedsge­spräch, Zuneigung kaum verdeckend.

Später kommt Gerschom Wald zu ihm: „Einen Sohn habe ich schon verloren. Kom­men Sie bitte nä­her, junger Mann. Noch näher. Noch ein bisschen. Und er neigte den schweren Kopf und küsste Schmuel mit kräftigen, kühlen Lippen mitten auf die Stirn.“  Das sind bewegende  Abschiede von beiden Hausbewohnern. Da ist viel gewach­sene Zuneigung.

Dann sitzt Schmuel im Bus nach Beer Scheva. „Seine Eltern kamen ihm jetzt wie Fremde vor, als wären beide nur noch Schatten der Erinnerung, als hätten ihn in diesem Winter der alte Mann und die verwitwete Frau adoptiert, so dass er von nun an nur noch zu ihnen gehö­ren würde.“ So geht es ihm jetzt durch den Kopf. Und das ist deutlich.

In Beer Scheva ist der letzte Bus zur neuen Stadt am Krater Ramon schon weg. Der letzte Satz des Romans lautet: „Er stand da und überlegte.“ Aber kein Zweifel: Er wird Ramon im Negev erreichen.


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3. Judas Ischariot, der einzige Freund     
Dieses ja durchaus schon dichte Geschehen im Hause von Atalja Abrabanel wird nun also aufgela­den durch zwei große Themen: Jesus und Judas sowie Ben Gurion  und der Unabhän­gigkeitskrieg. Diese Themen sind im Roman gestreut. Ich fasse sie jeweils zusammen.

Zunächst also Jesus und Judas. Sie erinnern sich: „Jesus in den Augen der Juden“  -  auch diese Prü­fungsarbeit hatte Schmuel mit seinem Ausscheiden aus dem Stu­dium beiseite ge­legt. In der Ruhe der neuen Umgebung aber be­kommt er neue Lust zu diesem Thema. Jetzt sitzt er also wieder an sei­nen freien Vormittagen in der Je­rusalemer Staatsbibliothek und stu­diert, wie die Juden durch die Jahrhunderte hin­durch Jesus ge­sehen haben. Dazu wird im Roman viel Material ausgebreitet. Der Leser soll begreifen, dass Schmuels Darstellungen historisch begründet sind. Schmuel, der Atheist,  glaubt „keine Sekunde daran, dass Jesus Gottes Sohn ist.“ Aber er liebt ihn – als Mensch.

Zu Jesu Lebzeiten, schreibt Schmuel,  gab es nicht einfach nur „die Juden“, son­dern eine Vielfalt des Judentums: Pharisäer und Schriftgelehrte, dazu Sadduzäer, Essener, Zeloten und weitere Gruppen. Jesus sei der Gruppe der Pharisäer gefolgt. Er habe sich zur Tora und auch zur mündlichen Überlieferung bekannt. Seinen Jüngern sagt er: „Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, … sondern zu erfüllen.“  Er habe die jüdische Religi­on nur von allen möglichen selbstgefälligen rituellen Auswüchsen befreien wollen, die die Priesterschaft und die Pharisäer hinzugefügt hätten.

Wären diese sanften Reformen ge­lungen, hätte die Weltgeschichte wohl ein ande­res Gesicht bekommen, glaubt Schmuel. Die christliche Kirche wäre nicht entstan­den, vielleicht hätte Europa eine geläuter­te Version des Judentums übernommen.

Im Zentrum von Schmuels Interessen steht aber nicht Jesus, sondern zunehmend Judas. Schmuel er­kennt nämlich, dass für die Einschätzung von Judas als Verräter jeder Beweis fehlt, dass dieses Urteil vielmehr eine Ge­schichtsklitterung des frühen Christentums ist. Da­gegen setzt Schmuel als sein Urteil: Judas ist der engste Freund von Jesus gewesen. Und mehr noch: „Judas Ischariot ist der Gründer der Christli­chen Religion!“

Das erscheint zunächst absurd. Schmuel aber macht es mit guten Gründen plausi­bel: Judas sei ein vornehmer und gebildeter Mann aus Judäa gewesen, habe den Pharisäern zumindest nahegestanden. Diese Herkunft habe ihn deutlich von den Jüngern Jesu unterschieden, die aus dem abgelegenen Galiläa stammten und ein­fache Fischer und Bauern waren. Wie aber wurde dieser Judas dann ein Jünger von Jesus? Schmuel erklärt: Die Pharisäer Jerusalems hätten gehört, dass da im fernen Gali­läa ein Prophet namens Jesus sehr viele Anhänger um sich versammle. Die­ser Jesus könnte zu ei­nem Machtfaktor werden. Also hätten die Pharisä­er Judas ge­beten, sich der Jüngerschaft Jesu anzu­schließen, um in Erfahrung zu bringen, was dieser Jesus da plane und wie gefährlich er sei.

Judas sei diesem Wunsch gefolgt, sei in einfachen Kleidern nach Galiläa gegangen und habe es ge­schafft, Mitglied im Kreis der Jünger Jesu zu werden. Nun aber das Wunder: Judas er­lebt einen ganz anderen Jesus als erwartet: Dieser Jesus ist voll warmer, anziehender Liebe. Seine Einfachheit und Bescheidenheit, seine Herzlich­keit und Wärme im Umgang mit Men­schen sind ergreifend. Die Schönheit seiner Gleichnisse und die Kraft seiner Botschaft über­wältigen Judas.


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Judas wurde, schreibt Schmuel, der erste Mensch, der aus ganzem Herzen an die Göttlich­keit Jesu glaubte. Damals herrschte nämlich eine große Messiaserwartung unter den Juden. Judas glaubte deshalb, dass dieser Jesus bald als Messias die Welt erlösen werde. Für diesen Akt aller­dings, war Judas über­zeugt, müsse Jesus aus der Pro­vinz in die heilige Stadt Jerusa­lem zie­hen.

Hier werde er das große Wunder vollbringen: Er müsse vor den Augen von ganz Je­rusalem gekreu­zigt werden, dann aber sich befreien und lebendig und frei vom Kreuz herunterstei­gen. Das werde die ganze Welt erschüttern. Sie werde vor ihm auf die Knie fallen. Und das Himmelreich auf  Erden werde seinen Anfang nehmen. So schildert Judas Jesus gegenüber die unmittelbar bevorstehende Zukunft. Jesus aber zweifelt, zögert, hat  Angst. Judas dage­gen drängt, macht Mut und hat Erfolg. Sie ziehen nach Jerusalem.

Hier schafft es Judas dank seiner guten Beziehungen zu den Pharisäern und Schriftgelehrten, die von seiner Wandlung ja nichts wissen, dass Jesus tatsächlich gekreuzigt wird - am Vor­abend des Pessachfestes. Judas erlebt das in freudigster Erregung, er glaubt fest, dass Jesus jetzt vom Kreuz heruntersteigen und zum Volk sagen wird: „Liebet einander!“ Aber nichts dergleichen geschieht. Das Volk verhöhnt ihn! Jesus leidet wie jeder gekreuzigte Mensch und stirbt.

Und Judas? Er hat, schreibt Schmuel, Jesus geliebt und geehrt, hat bis zuletzt fest an ihn als den Erlöser der Welt ge­glaubt. Als Jesus nun elend am Kreuz stirbt, ver­lässt Judas den Ort und erhängt sich. „Ja“, schreibt Schmuel, „so starb der erste Christ. Der letzte Christ. Der einzige Christ.“ (Dieser Satz wirft allerdings Fragen auf. Denn zu einem Christen gehört Os­tern!) Ein Verräter sei Judas nie gewesen. Alle an­deren Jünger seien bei Jesu Gefangennah­me geflohen, nur Judas sei bei ihm geblieben. Und zwar aus Treue. Dass sein Kuss Je­sus verraten haben soll, sei abwegig, Jesus sei in Jeru­salem allseits bekannt ge­wesen. Und die Sache mit den dreißig Silberlingen sei eine reine Erfindung spä­terer Juden­feinde. Silber­linge habe es zu Jesu Lebzeiten gar nicht gegeben.

Trotzdem, stellen Schmuel und Gerschom Wald fest, sehe die ganze Christenheit seit 2000 Jahren in Judas den großen Verräter. Judas erscheine geradezu als die Verkörperung des Ver­rats. Und der Name Judas stehe für das ganze Judentum. So sei es zum Antisemitismus ge­kommen, sind die bei­den sich einig. Der Antisemitis­mus stamme aus der Zeit des frühen Christentums. Seither sei in den Augen von Millionen Christen jeder Jude ein potentieller Verräter.

Damit hat Schmuel sein Bild von Jesus und Judas abgeschlossen. Es gibt aber für den Leser eine Überraschung: Gegen Ende des Romans bringt der Erzähler ein ei­genständiges Kapitel, 14 Seiten lang, von der Kreuzigung Jesu aus der Sicht von Judas. Iris Radisch von der „Zeit“  hält es für das eindrucksvollste des Romans: Der Leser wird unmittelbarer Zeuge, wie Judas den Todeskampf von Jesus am Kreuz von Golgatha miterlebt, wie er Jesu Schreie hört, im­mer noch inständig hoffend auf das Wunder des Messias durch Abstieg vom Kreuz. Aber nichts dergleichen ge­schieht. Jesus stirbt.

Da weiß Judas: Sein Traum von Jesus, dem Messias, war falsch. Jesus war nur ein Mensch. Diesen Irrtum hätte er sogar schon unterwegs erkennen können: Es gelang Je­sus da nämlich nicht, die noch unreifen Früchte eines Feigenbaums durch ein Wunder zur Reife zu bringen, um den Hunger zu stillen. Für seinen Irrtum bestraft Judas sich, indem er sich erhängt. Dass er aber durch eben diesen Irrtum das Christentum begründet hat, das er­fährt er nicht mehr. 
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4. Schealtiel Abrabanel - ein Friedenspolitiker?
Wie anfangs gesagt, setzt der Roman neben die Judas-Frage einen zweiten Schwerpunkt: die Grün­dung des Staates Israel. Sie wurde ermöglicht durch einen UN-Beschluss im No­vember 1947. Pa­lästina sollte zwischen Arabern und Juden ge­teilt werden. So konnte am 14. Mai 1948 der jüdische Staat in Erez Israel gegründet werden. Hier stand im Mittelpunkt Ben Gu­rion. Er hatte als Minister­präsident  die Zügel fest in der Hand. Als die Araber den neuen Staat sofort angriffen, konnte Is­rael seine Unabhängig­keit be­haupten. Die ganze jüdische Bevölkerung stand fest zusammen. Im Roman erfahren wir all das durch Radiosendungen, durch Texte aus dem Staatsarchiv und durch Gespräche zwischen Ger­schom Wald und Schmuel.

Frage aber: Stand wirklich die ganze jüdische Bevölkerung hinter dem Staatsgrün­dungsakt? Nein, es hat da einen jüdischen Rechtsanwalt und Orientalisten gegeben, seit den 1930er Jahren in Palästina sehr bekannt und engagiert. Er hat seit 1938 in der zionis­tischen Weltor­ganisation und in der Jewish Agency hohe Ämter be­kleidet. Er ist Führer der sephardischen Juden, spricht seit seiner Kindheit Arabisch und  hat viele Freunde unter den Arabern.

Dieser Mann war entschiedener Gegner einer jüdischen Staatsgründung in Erez Is­rael, weil sie einen Krieg unvermeidlich mache. Er setzte sich deshalb mit ganzer Kraft für ein friedli­ches Miteinander von Arabern und Juden ein. 1947 bat er Ben Gurion, vor der UN-Ver­sammlung für eine friedliche Lösung des Staatenproblems werben zu dürfen. Das wurde von der Jewish Agen­cy so­fort abgelehnt, stieß in der jü­dischen Öffentlichkeit auf breite Empö­rung. Er wurde Araber­freund und Verräter ge­nannt, wurde aus beiden Ämtern unehrenhaft ent­lassen. Eine ausführliche Kündigung Abrabanels wurde ignoriert und war später nicht mehr auffindbar. Er zog sich in sein Haus in Jeru­salem zurück. Dort starb er verbittert 1950.

Sie werden längst gemerkt haben, wer dieser entschiedene Friedensbefürworter ist: Scheal­tiel Abra­banel, der Vater von Atalja. Anders als Judas Ischariot aber ist Abra­banel eine Ro­manfigur.

Ich finde das einen glänzenden Einfall von Amos Oz: So kommt aktuelle Politik auf ganz natürliche Weise in das Romangeschehen. Denn Ger­schom Wald hat ja ei­nige Jahre mit Ab­rabanel zusammen gewohnt, kann deshalb sehr authentisch dessen Ein-Mann-Opposition ge­gen die Kriegspolitik von Ben Gurion schildern. Abrabanel habe unaufhörlich behauptet, die Gründung des Staates Israel sei ein tragischer Fehler, habe sogar von einem „primitiven, mörderischen Irrweg ge­sprochen“. Der Staat sei ein böses Raubtier, Ben Gurion ein falscher Messias. Juden und Araber sollten in nachbar­schaftlichen Gemeinschaften leben, durch kei­ne Grenzen ge­trennt. Nur so könne Vertrauen entste­hen. Juden wie Araber seien doch beide schon Op­fer des christlichen Europas geworden: die Araber durch Kolonisierung, die Juden durch Völkermord.

Das alles ergibt sich in Gesprächen von Gerschom Wald mit Schmuel Asch.

Schmuel sympathisiert mit der Einstellung Abrabanels, hält aber den Krieg letztlich für un­vermeidbar. Gerschom Wald steht ganz auf der Seite Ben Gurions, rühmt ihn als einen  der größten Führer der Juden. Der Krieg sei unvermeidlich gewesen. Abrabanels Pläne hätten nicht den Hauch einer Chance gehabt. Wald  nennt Abrabanel aber nicht „Verräter“. Er sei ein Träu­mer gewe­sen, rea­litätsfern, habe wie Jesus an eine universelle Liebe aller von Gott geschaffenen Menschen ge­glaubt. Er  habe von Anfang an in einer manichäischen Welt ge­lebt: entweder Pa­radies oder Höl­le!
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Mitten in diese Diskussion fährt dann so etwas wie ein mittleres Erdbeben und führt zu einer über­raschenden Wende: Das beginnt damit, dass Ger­schom Wald an einer schweren Winter­grippe erkrankt. Zum ersten Mal darf Schmuel sein Schlafzimmer betreten und entdeckt ein Foto von Walds gefallenem Sohn Micha, Ehemann von Atalja. Jetzt erzählt Wald mehr von seinem Sohn, erzählt vor allem von dessen Ent­scheidung, 1948 trotz sei­ner 37 Jahre als Sol­dat am Unabhängigkeitskrieg teilzunehmen. Atalja und Abraba­nel hätten dringend abgera­ten, er aber habe Micha aus voller Überzeu­gung unter­stützt. „Ich habe ihn selbst auf den Berg Moria hinaufgetragen wie Abraham seinen Sohn Isaak.“ Anders aber als Abraham hat Gerschom seinen Sohn Micha opfern müssen. Eine ergreifende Szene. Ohne diese väterliche Unter­stützung lebte Micha wahrscheinlich noch.

Wald zeigt Schmuel jetzt seine Zweifel und seine Schuldgefühle. Das Familienglück sei da­hin, die Enkel blie­ben ungeboren. Und doch kann Wald die Notwendigkeit die­ses Unabhän­gigkeitskrieges auch jetzt nicht einfach für falsch halten. Das ganze Gespräch ist eine ein­drucksvolle Schilderung, wie damals die Ju­den diesen Unab­hängigkeitskrieg bejaht haben. Und ist zugleich eine bewegende Si­tuation zwi­schen Wald und Schmuel. Sympathie und Ver­trauen zwischen ihnen wachsen. „Manchmal sind Sie wie eine Schildkröte, die unter­wegs ihren Panzer verloren hat“, sagt Wald.

Atalja hat gehört, dass Wald mit Schmuel über Micha gesprochen hat. Jetzt möchte auch sie mit Schmuel über ihn reden. Was nun folgt, ist ein großer emotionaler Aus­bruch und zu­gleich ein Ver­trauensbeweis für Schmuel. Wie ihr Vater kritisiert auch Atalja  Staatsgrün­dung und Kriegs­führung Israels. Eine ganze Generation sei geop­fert worden. Auch ihr Ehe­mann Micha. Voller Schmerzen erzählt sie von Michas To­destag, wie er am 2. April 1948 mit anderen eine Lastwa­genkolonne auf der Fahrt nach Jerusalem geschützt habe. Und was sie dann weiter sagt, muss ich zi­tieren [S. 206]:

„Als die Kolonne sich bereits Jerusalem näherte, fiel jemand auf, dass Micha fehlte. Am nächsten Morgen, noch bevor es hell wurde, machte sich ein Spähtrupp auf, um die Berg­hänge abzusuchen. Gute Kameraden von ihm, die meisten zehn, fünfzehn Jahre jünger als er. Sie suchten den ganzen Morgen, bis sie ihn fanden. Vielleicht ist er dort gestorben, allein in der Nacht. Vielleicht hat er um Hilfe gerufen. Vielleicht hat er versucht, auf dem Bauch, blutend, den Hang hinunterzurutschen, zur Straße. Und vielleicht haben ihn  Araber schon gleich gefunden, nachdem seine Freunde sich zurückgezogen haben. Sie haben ihm die Keh­le durchgeschnitten, den Unterkörper entblößt, das Glied abgeschnitten und es ihm in den Mund gestopft. Nie werden wir wissen, ob sie ihn vor oder nach der Kastration abge­schlachtet haben. Diese Frage bleibt offen. Diese Frage bleibt für ewig meiner Vorstellungs­kraft überlassen. Damit es mir nie an etwas fehlt, worüber ich nachts nachdenken kann. Nacht um Nacht.“

Atalja, die sonst so kühle, hat Schmuel ihren immer noch tiefen Schmerz geoffen­bart. Der Tod Michas habe zum Zer­würfnis der drei Bewohner geführt. Sie hätten nicht mehr mitein­ander geredet. Schon zu Lebzeiten ihres Vaters nicht. Und auch nach seinem Tod nicht. Ebenso nach außen kein Kontakt mehr. Gerschom Wald und sie lebten wie in einem U-Boot. Das ist das eingangs erwähnte, totgeschwiege­ne Geheimnis des Hauses. Schmuel hat es jetzt aufgedeckt.

Aber eine einfache Lösung kann es hier nicht geben. Denn Micha hat ja aus Liebe für sein Is­rael ge­kämpft. Atalja dagegen hat wie ihr Vater einen sol­chen Krieg aus Gründen der Hu­manität rigoros abge­lehnt. Das ist ein unlösbarer moralischer Konflikt: Das  Wohl des
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einzelnen gegen die Loyalität zum Staat. Und dieser Staat heißt auch noch Israel und ist der erste jüdische Staat seit 2000 Jahren. Oz hat hier eine unlösbare, eine tragische Situation ge­schaffen. Ataljas Erzählung macht das deut­lich.

Die Begeisterung der Israelis für ihren neuen Staat habe den Vorwurf des Verrats gegenüber Abraba­nel nur noch gesteigert. Denn Abrabanel sei im­mer noch mit sehr vielen Arabern be­freundet ge­wesen, sagt Gerschom. Aber trotz ihrer tiefen Mei­nungsverschiedenheiten sei Abrabanel ihm immer so teu­er wie ein Bruder gewesen, zwar ein verlorener Bruder, aber trotzdem ein Bru­der.

5. Ein Blick zurück – was fällt auf?
Der Roman verbindet mit dem Thema Verrat  zwei große Ereignisse der jü­disch-israelischen Geschichte: Judas und Jesus sowie Abrabanel und den Unab­hängigkeitskrieg. Es sind je­weils ei­gene Hand­lungsstränge. Erst gegen Ende des Romans kommt es zwi­schen Schmuel und Ger­schom Wald zu einem abschließenden Gespräch über Verrat und Verräter allgemein: Ver­räter könne auch als Eh­rentitel betrachtet werden, sagt Schmu­el. Wer den Mut zur Verän­derung habe, wer­de leicht von den sturen Traditionalisten als Verräter abqualifi­ziert. Die bei­den zäh­len vie­le Beispiele für „Verräter“ auf, die in Wirklichkeit Helden gewe­sen seien,  z.B. der Prophet Jere­mias oder Abraham Lincoln oder die deut­schen Offizie­re, die ver­sucht hätten, Hitler zu töten. Dass der Roman Judas Ischariot als sol­chen Helden sieht, ist klar. Aber auch auf Abrabanel fällt jetzt Lob.

Diese beiden, Judas wie Abrabanel, verbindet aber noch etwas anderes: Beide ver­folgen eine Utopie. Sie se­hen in ihren jeweils verworrenen Gegenwartswel­ten die Notwendigkeit, sich eine bessere oder sogar gute künftige Welt  vorzustel­len und anzu­streben. Judas sieht die Friedenswelt des Messias. Und Abrabanel sieht ein friedliches Nebenein­ander von Arabern und Juden in Palästina. Mit ihren Uto­pien machen sie deutlich, dass auch in bedrückenden Zeiten der Glaube an eine bes­sere Welt hochgehalten werden muss, mag es auch noch so schwierig sein. Die Hoffnung darf nicht sterben.

Einen anderen Schwerpunkt setzt der Roman mit der Figur von Schmuel Asch: Er sieht sei­ne Betreuungsaufgabe zu­nächst nur als kurzzeitige Zwischenlösung. Das ändert sich aber durch seinen Umgang mit den beiden Hausbewohnern: Die Sym­pathie zwischen ihnen steigt. Schmuel gewinnt zunehmend an Sensibilität und Rea­litätssinn. In einer entscheiden­den Situation gelingt es ihm dann, mit Michas Tod ein Problem zur Spra­che zu bringen, das für beide Hausbewohner schon seit Jahren eine schwere Be­lastung dargestellt und ihren nor­malen Umgang miteinander ausgeschlossen hat. Schmuel leis­tet hier Aufklärung.  Am Schluss ist sein Vertrauen zu den beiden so gewachsen, dass er sie sich sogar als seine Eltern vorstel­len kann. Seine Art zu leben hat sich entscheidend verändert.

Sieht man auf die stetig wachsende Sensibilität und Übersicht von Schmuel Asch, kann man im Roman „Judas“ auch einen Entwicklungsro­man erkennen. Genau genommen muss man  es sogar, denn beim ersten Gang durch den Flur des neuen Hauses muss Schmuel sich einen Weg bahnen „mit der Stirn vor­aus … wie ein Säugling durch den Geburtskanal“ (S.26).

Und wichtig auch dies: Wir erfahren in diesem Roman, wie ein Volk, das seit Jahrtau­senden die Macht des Gebets, der Bü­cher, der guten Ta­ten aner­kannt hat, ein Volk, das die Kraft des Lernens, des Stu­dierens und der Vermittlung beses­sen, das die politische Macht aber immer nur als Op­fer erlebt hat, wie dieses Volk nun plötzlich die Macht der Maschinen­gewehre, Pan­zer und Kampfflugzeuge selbst besitzt und damit auch vor neu­en Problemen steht.
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Der Roman „Judas“ ist typisch für Amoz Oz: Er verbindet Familienverhältnisse und menschliche Beziehungen mit politischen Verhältnissen im Land. Es gibt durchaus längere Sachgespräche und wissenschaftliche Darstellungen. Und doch ist das Gan­ze so glaubhaft, an­schaulich und eindrucksvoll auf die Ebene des individuellen Erlebens und Verste­hens her­untergeholt, dass die Lektüre ein Vergnügen ist.                                     
6. Judas Ischariot in der Geschichte               
Ich möchte jetzt also noch zwei kurze, aber wichtige Abschnitte hinzufügen: zur historischen Figur von Judas Ischariot und zum Schluss einiges zur Person von Amos Oz.

Zunächst also Judas Ischariot. Wie sehen ihn Welt und Wissenschaft heute?
Im November schickte mir mein Bruder einen Artikel aus der SZ. Überschrift: „Erlö­ser für alle – Ben Becker spielt im Berliner Dom 'Ich, Judas' und alle ju­beln.“ Diese Überschrift sagt schon alles: Was Ben Be­cker hier vorträgt, ist ein Text von Wal­ter Jens aus dem Jahr 1989, eine Judas-Re­de. Judas sieht sich hier nicht als Verräter, sondern als Erfül­ler des gött­lichen Plans.

Diese Rede ist nur die Kurzform eines Romans, den Walter Jens schon 1975 veröf­fentlicht hat. Titel: „Der Fall Judas“. Der Roman spielt 1962, es geht da um den An­trag eines Franzis­kanerpaters aus Jerusalem, Judas selig zu sprechen. Seine Be­gründung: „Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz kei­ne Er­füllung des Heilsplans“. Ju­das habe gewusst, dass die Erfül­lung der Prophetie des Alten Bun­des al­lein an ihm ge­legen habe. Das ist das Gegenteil von Judas, dem Verräter.

Amos Oz und Walter Jens sind nicht die einzigen, die das Thema Judas Ischariot neu gestal­tet haben. Seit dem 18. Jahrhundert, also seit der Aufklärung, gibt es eine Vielzahl von Wer­ken mit diesem neuen Judas-Bild. Die erste moderne Judasdeu­tung findet sich in Klopstocks „Messias“ (1745 - 1773). Goethe hat ein solches Werk immer­hin ge­plant. Ein klarer Entwurf dazu findet sich in DuW, Kap.15.

Es ist kein Wunder, dass diese neue Sicht von Judas erst mit der Zeit der Aufklä­rung be­ginnt. Denn das, was da in den vier Evangelien steht und in den folgenden Jahrhun­derten über Judas Ischariot geschrieben wor­den ist - und natürlich auch ge­malt und gemeißelt -, ist für uns heute inhaltlich voller Widersprüche. Warum z.B. war ein Judas-Kuss nö­tig, wenn Jesus in Jerusalem stadtbekannt war? Und wie kann Judas 30 Silberlin­ge bekommen ha­ben, wenn es diese Münzen zu Jesu Leb­zeiten gar nicht gab? Historisch fehlt da jeder Beleg.

Man muss sich aber Folgendes klarmachen: Den Evangelisten und ihren Nachfolgern geht es nicht um historisch kor­rekte Darstellung, sondern immer nur um den rich­tigen Glauben, um die Vor­bereitung der Gottesherrschaft. Judas ist da nur ein Störer und Verrä­ter.

Für uns heute ist das anders: Was den historischen Judas angeht, ist wohl nur sicher, dass er ein Jünger von Je­sus und Mitglied des Zwölferkreises war und dass er bei der Verhaftung von Jesus im Garten Gethseman­e eine zweifelhafte Rolle gespielt hat. Alles andere sind Glaubensaussagen. Sie kommen entweder aus Weissagung­en des AT oder sind Ausgestaltun­gen der christlichen Ur­gemeinde, und das um so stärker, je länger die Kreuzigung zurück liegt. Und je mehr die Christen gegenüber den Juden an Selbstbewusstsein gewinnen.

Das ist schon bei den vier Evangelisten zu erkennen: Alle schreiben, dass Judas Jesus verra­ten hat und dass dieser darauf­hin gekreuzigt worden ist. Mar­kus belässt es dabei; denn er
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schreibt schon um 70 n.Chr. Johannes aber schreibt erst 30 Jahre später, erhöht die Attacke, prangert Judas mehrfach als Verräter an, oft mit dem Zu­satz, dass der Satan in ihn gefahren sei. Einmal sagt er sogar, alle jüdi­schen Geg­ner von Jesus hätten „den Teufel zum Vater“ (Joh. 8,44). Das ist schon ziemlich heftig! Beginnt hier der Antisemitismus?

Pinchas Lapide, ein ausgewiesener Kenner des christlich-jü­dischen Dialogs, hält die Tat von Judas, also den angeblichen Verrat, für unverzichtbar. Und er fragt: Wenn es ohne Judas die Kreuzigung und also das Christentum gar nicht gegeben hätte, warum ist dann die­ser Judas von den Christen verteufelt und für ewig verdammt worden? Auf diese Fra­ge hätten die Ju­den von den Christen bis heute keine Antwort erhalten.

7.  Und zum Schluss noch etwas Biografisches zu Amos Oz
Er wurde als Amos Klausner 1939 in Jerusalem geboren. Er ist Großneffe des bedeutenden zionistischen Literatur- und Re­ligionswissenschaftlers Joseph Klausner. Seine Großeltern flüchteten 1917 von Odessa nach Wilna und von dort 1933 mit Sohn Jehuda Arie, Amos' Va­ter, nach Palästina. Der Vater wurde in Jerusalem Bibliothekar. Amos Klausner besuchte eine re­ligiöse Grundschule und ein weltliches Gymnasi­um. 1952 nahm sich seine Mutter Fania Klausner das Leben. Zwei Jahre später, mit 15 Jahren, ver­ließ  Amos aus Protest seine Fami­lie und ging in den Kibbuz Hul­da. Dort nahm er den Nachnamen „Oz“ an. „Oz“ ist hebrä­isch und bedeutet „Kraft“. Amos wollte nicht nur Theorie und Diskussion, sondern auch Tat und Handlung.

Er leistete seinen dreijährigen  Wehrdienst, studierte dann in Jerusalem Literatur und Philo­sophie und kehrte nach Abschluss des Studiums 1963 in den Kibbuz Hulda zu­rück. Blieb dort bis 1986. Die Zeit im Kibbuz, diesen Kontrast zwischen Wunsch und Wirk­lichkeit, hat er als die wichtigste seines Lebens be­zeichnet. Er zieht dann mit seiner Frau und seinen zwei Kindern nach Arad, eine Stadt im Negev. Da lebt er auch jetzt noch.

Von 1987 – 2005 war Amos Oz Professor für hebräische Literatur der Universität Beer She­va/Negev.  Er hat viele Romane, Erzählungen, Essays und sogar drei Kinderbücher ver­fasst. Seine Ar­beiten wurden in 36 Sprachen übersetzt. Damit ist er gegenwärtig der wohl bedeu­tendste Schriftstel­ler Israels.

Seine bekanntesten Romane sind „Mein Michael“ (1968), „Black Box“ (1986) und „Eine Geschichte von Liebe und Finster­nis“ (2004). Das ist eine Biografie, roman­haft erzählt. Es geht da um die Schicksale seiner Eltern und Großeltern, aus Polen, Litauen und der Ukraine. Und um ihr neues Leben in Israel. Es geht auch um die Gründe für den Selbstmord seiner Mutter.

Amos Oz engagiert sich in der Friedensbewegung, ist Mitbegründer von „peace now“ in Is­rael. In Wort und Schrift setzt er sich nachdrücklich für eine Zwei-Staaten-Lösung im israe­lisch-palästinensischen Konflikt ein. Diese israelische „peace now“-Bewegung, sagt Oz, sei aber mit der in Europa nicht zu vergleichen. Sprüche wie „lieber rot als tot“ oder „make love not war“ gebe es für sie nicht. Sie sei­en keine Pazifisten. „Ich ken­ne den Tod aus nächster Nähe. Ich habe ihn auf dem Schlachtfeld und als klei­ner Junge in Jerusalem kennengelernt. Ich sah den Tod, verpfuschte Leben, Verlust, Elend, ich bin zwischen Flüchtlingen aufge­wachsen, die alles zurücklassen mußten. Und so ist fast eine Art religiöses Verlangen in mir, morgens, wenn ich in die Wüste gehe – denn ich fange jeden Tag mit einem Gang in die Wüste an – und das Licht und die Steine sehe, jemandem 'Danke' zu sagen“.
(Brief aus Arad, 1991)
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Schließlich die Frage nach Amos Oz' Verhältnis zu Deutschland. Es gibt dazu einen ausführ­lichen Essay von 2003, Titel: „Israel und Deutschland“. Oz schildert da u.a. die israelischen Proteste gegen das „Wiedergutmachungsabkommen“ von 1952, Dazu eine Passage, die ich Ihnen vorlesen muss. Oz erinnert sich:

„Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal, im Jahre 1954 oder 1955, im Tel Aviver Bahnhof einen neuen glänzenden Zug bestieg, um nach Haifa zu fahren, einen in Deutsch­land hergestellten Zug, mit einer modernen Diesellok, wie wir sie bis dahin bei uns noch nicht gesehen hatten: Es war einer der ersten Züge, die uns die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des „Wiedergutmachungsabkommens“ geschickt hatte. Während der ersten Hälfte der Fahrt hörte ich die Räder des komfortablen, blitzenden Zuges ohne Unterlaß rat­tern: deut-scher Zug, deut-scher Zug, deut-scher Zug, mit dem ganzen beängstigenden Wi­derhall des Räderratterns der Waggons der deutschen Mord-züge.

Etwa auf halbem Wege verstummte dieses schreckliche Echo in meinem Kopf und machte Platz für einen noch schrecklicheren Gedanken:: Dieser moderne Waggon, die bequemen Sitze, die polierten Holzverkleidungen, die schnelle, elegante Lok, all das ist uns nicht von Deutschland geschenkt worden. Ganz im Gegenteil: Das sind die Geschenke der Ermorde­ten. Der gepolsterte Sitz, in dem ich es mir am Fenster bequem machte, wurde in Wahrheit von den bescheidenen Ersparnissen von Emma und Hermann Rosenthal aus Marburg ge­kauft, Ersparnisse, die im Laufe vieler Jahre gehortet worden und für die Hochzeit ihrer ein­zigen Tochter Ilse bestimmt waren. Und die blanken Fenster mit den hellen Vorhängen sind die Erbschaft des winzigen Lebensmittelladens der Familie Mendel Kellner aus dem galizi­schen Städtchen Tarnów. Und der Speisewagen ist vielleicht das einzige Andenken an ein bescheidenes Restaurant für Milchspeisen, das den Brüdern Grodzenski in Wilna gehört hatte.

All das, was die Ermordeten, die zu Tode Gequälten einmal ihren Kindern und Enkeln zu vererben gehofft, all das, was sie mühselig über Generationen erworben und gehütet hatten, vererbten sie nicht, wie es üblich ist, ihren Nachkommen, sondern mir, der ich nicht einmal ihren Namen kannte und ihre Sprache nicht sprach und ihr Schicksal nicht teilte, mir, der da zitternd in der Ecke des Waggons saß, der von ihrem Geld bezahlt worden war. Also kein deutscher Zug, sondern das Geschenk der Gequälten, das Erbe der Ermordeten. To-ten-zug, To-ten-zug ratterten die Räder auf den Schienen, To-ten-zug, To-ten-zug.“

Ein bewegender Text!

Aber bei dieser Distanz bleibt es nicht. Die Litera­tur habe Verbindungen geschaffen. Oz nennt Günter Grass: „Die Blechtrommel“, Heinrich  Böll: „Billard um halb zehn“ und vor allem „Die Deutsch­stunde“ von Siegfried Lenz. Mit Lenz war Oz befreundet. 1983 sein ers­ter Besuch  in (West)Deutsch­land. Seither mehr als 15 weitere. Viele Literatur-Preise in Deutschland für ihn, zuletzt, 2014, zum ersten Mal vergeben: der Siegfried-Lenz-Preis.

Frage: Gibt es Beziehungen zwischen der Biografie von Amoz Oz und seinem Roman „Ju­das“?  Antwort: Eindeutig Ja! Bei beiden der Bruch mit dem Eltern­haus, die Ablehnung der Stadt Jerusalem und der Beginn eines neu­en einfachen Lebens: Für Oz  zunächst Kibbuz Hulda, dann die Stadt Arad im Ne­gev. Für Schmuel sofort der Negev: Mizpe Ramon. Beide haben ihre zunächst radikal linke politische Weltsicht in eine gemäßig­te verändert: Beide vertreten für Palästina entschieden die Zwei-Staaten-Theorie.

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Ich habe im Roman „Judas“ nach einer angemessenen Textstelle gesucht, mit der ich diesen Vortrag beschließen kann. Und habe sie auf den letzten Seiten gefunden. Schmuel sitzt da im Bus nach Beer Scheva und schaut aus dem Fenster:

„Bei Scha'ar Hafei schlängelte sich die Straße zwischen bewaldeten Hügeln hindurch. Auf einem von ihnen war Micha Wald im Frühling vor zwölf Jahren gestorben. Allein, hatte er zwischen den Felsen die ganze Nacht geblutet, bis er gegen Morgen das Bewusstsein verlor und am Blutverlust starb. Durch seinen Tod bekam ich diesen Winter in seinem Haus ge­schenkt, im Schoß seines Vaters und seiner Frau. Er ist es, der mir diesen Winter geschenkt hat.“ (S.329)


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